„Vollkommen falsche Anreize des Staates“: Jobcenter-Mitarbeiterin kritisiert Bürgergeld scharf – Die Einführung des neuen Bürgergeldes, welches zum 1. Januar 2023 das Arbeitslosengeld 2 (Hartz VI) ersetzen soll, wird von vielen als ein verheerendes Signal vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels gedeutet. Selbst intern wird Kritik von Mitarbeitern aus dem Jobcenter laut. Eine davon wendete sich kürzlich an „Focus online“ und betont, dass alles sogar noch schlimmer sei.

Die Frau, die ihren echten Namen aus Angst vor beruflichen Nachteilen nicht nennen möchte, erklärt: „Persönlich bin ich gegen die Einführung des Bürgergelds.“

Mit Blick auf die steigenden Leistungen, Wohn- und Heizkosten-Übernahme sowie die Extras für künftige Bürgergeld-Bezieher, lohne es sich aus ihrer Sicht für den Normalverdiener immer weniger, jeden Morgen zur Arbeit zu gehen.

„Mit dem Bürgergeld steht man nicht schlechter da, auch wenn jetzt zwölf Euro Mindestlohn bezahlt werden.“ 

Mit der Einführung des Bürgergeldes sollen alleinstehende Leistungsbezieher 53 Euro mehr erhalten, und damit 502 Euro pro Monat. Darüber hinaus werden Miet- und Heizkosten übernommen, das Schonvermögen erhöht und die die Sanktionsmöglichkeiten neu geordnet.

Laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales soll das Bürgergeld für „mehr Sicherheit, mehr Respekt und mehr Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben“ sorgen, für die Frau aus dem Jobcenter ist es schlicht unfair:

„Wir versuchen als arbeitende Bevölkerung jeden Cent umzudrehen und fragen uns, ob wir unseren Kindern die nächste Klassenfahrt ermöglichen können.“ Wer Bürgergeld erhält, müsse sich darum hingegen keinerlei Gedanken machen.

„Das kann doch nicht sein!“

Die Frau verrät „Focus online“ außerdem, dass es in ihrem Jobcenter intern noch keinerlei Informationen zu dem Bürgergeld gegeben habe, und das obwohl sie und ihre Kollegen die Umstellung zum Jahreswechsel bewerkstelligen müssen. 

„Ich gehe davon aus, dass die Hälfte der Bewohner unserer Stadt im Januar einen Leistungsantrag stellen wird“, zitiert das Magazin seine Informantin, der zufolge die hohen Energiepreise dazu führen werden, dass viele Menschen ins Bürgergeld fallen.

„Diesem Ansturm sind wir im Jobcenter personell nicht gewachsen.“ – zumal es ja noch nicht einmal entsprechende Schulungen gegeben habe.

Auf Anfrage von „Focus online“ erklärte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit (BA) die fehlenden Schulungen damit, dass die genauen Inhalte noch nicht feststünden, und dass zum jetzigen Zeitpunkt noch kein finales Gesetz vorliege. Hier könne es noch mögliche Änderungen im nun anstehenden parlamentarischen Prozess geben.

Zwar betont der Sprecher, dass man die Mitarbeiter bei dem Prozess mitnehmen werde, die Informantin schätzt die Realität aber ganz anders ein: „Um unsere Einschätzung – und wir sind ja am nächsten dran – wurden wir nie gebeten. Ich finde das traurig. Ich hätte so viele Vorschläge, wie es besser laufen könnte.“

Diese interessierten jedoch niemanden.

Nicht nur, dass man am Anschlag arbeite – „Wenn mehrere Kollegen plötzlich ausfallen würden, bricht das ganze System zusammen.“ – die Frau fragt sich auch, wer das alles bezahlen soll, sei das deutsche Sozialsystem doch bereits jetzt an der Grenze der Belastbarkeit. 

„Mit zwölf Euro Mindestlohn pro Stunde bekommt man bei einer Vollzeitstelle 1.400 Euro netto im Monat. Zieht man davon Miete und Heizung ab, bleibt nicht mehr viel übrig“, rechnet die Jobcenter-Mitarbeiterin vor. Ein Mini-Job plus Aufstockung rentiere sich da mehr.

Zwar würden einige ihrer Kunden durchaus arbeiten wollen, ohne jedoch etwas zu finden, dennoch stellt sie klar: „Ich würde behaupten, dass das maximal jeder Zehnte ist. Alle anderen, die arbeiten könnten, beziehen lieber Grundsicherung.“

Die deshalb zu erwartenden Sanktionen nennt sie einen „Witz“: „Wer nicht beim Arbeitsvermittler erscheint, bekommt zwar einen Brief, aber auch nicht mehr.“ Erscheint man ein zweites Mal nicht, gebe es dann zehn Prozent Abzug für drei Monate.

„85 bis 90 Prozent meiner Kunden könnten sofort arbeiten, wenn sie wollten. Tun sie aber nicht. Wieso auch?“

Und weiter: „Dass sich Nicht-Arbeiten tatsächlich lohnt, ist absolut der falsche Weg.“ 

Der Sprecher der BA entgegnet dem: „Arbeit lohnt sich immer.“ So habe diese eine soziale Funktion und ermögliche die gesellschaftliche Teilhabe. Zudem böte das Gesetz sehr wohl Anreize zur Arbeitsaufnahme.

„Beispielsweise haben die Leistungsberechtigten durch die höheren Freibeträge beim Einkommen insgesamt höheres Einkommen zur Verfügung: Das ist eine ganz klare Motivation.“

Die Informantin aus dem Jobcenter wiederum könne sehr gut nachvollziehen, wenn sich viele angesichts „vollkommen falscher Anreize des Staates“ nun fragen, ob sie zugunsten des Bürgergelds nicht besser auf einen Vollzeit-Job verzichten sollten.

„Ich frage mich auch langsam: Warum nicht alles hinwerfen?“

Quelle: focus.de