„Kurzandacht in der Wohnzimmerkapelle“Medienwissenschaftler kritisiert „Tagesschau“ scharf

„Kurzandacht in der Wohnzimmerkapelle“: Medienwissenschaftler kritisiert „Tagesschau“ scharf – Mit einer ausführlichen Kritik, hat der Medienwissenschaftler Hermann Rotermund kein gutes Haar an der „Tagesschau“ gelassen. Ihm zufolge habe sich die zentrale Präsentationsform der meistgesehenen Nachrichtensendung in Deutschland, die international ihresgleichen suche, seit den 50er Jahren kaum verändert.
In einem Beitrag für die Nachrichtenagentur epd arbeitet der Experte heraus, dass in der „Tagesschau“ weder Ereignisse erklärt noch die Berichtsfolge moderiert würden, und die Sprecherinnen und Sprecher stattdessen lediglich Zusammenfassungen der redaktionell ausgewählten Inhalte verläsen.
„Der Tonfall ist sanft-autoritär und lässt keinen Zweifel darüber zu, dass es so und nicht anders in der Welt zugeht.“
Im internationalen Vergleich habe die „Tagesschau“ mit dieser Form der Nachrichtenaufbereitung fast schon ein Alleinstellungsmerkmal inne, urteilt Rotermund. So seien die Präsentatoren bei der BBC zugleich auch als Journalisten erkennbar, die Gesprächsangebote machten, anstatt als „Verkünder unangreifbarer Wahrheiten“ zu fungieren.
Die Redaktion der „Tagesschau“ wiederum sei offenbar darauf bedacht, einen Dialog zu vermeiden: „Die Sendung vermittelt den Eindruck einer Kurzandacht in der Wohnzimmerkapelle.“
Weiterhin kritisiert der Medienexperte, dass in vielen Filmbeiträgen und Sprechermeldungen „kaum Eigenrecherchen außerhalb von institutionellen Bezügen“ zu finden seien – es tauche vor allem der Typus des Sprechers oder Akteurs einer Organisation auf, die Bildspur illustriere lediglich den gesprochenen Text, ohne selbst eine informative Funktion zu haben.
Mit Blick auf den selbst auferlegten Formatzwang nivelliere die „Tagesschau“ die thematisierten Ereignisse letztlich:
„Auch echte Katastrophen können durch die mit Stereotypen gesättigten Aufarbeitungen ihren Schrecken verlieren.“
Wie Rotermund weiter schreibt, lieferten die standardisierten Berichte der „Tagesschau“ insbesondere „die Bestätigung der unermüdlichen Tätigkeit der ins Bild gerückten Akteure“ und vermitteln den Eindruck, „dass die Welt nicht völlig in Unordnung sein kann, solange diese Rituale funktionieren“.
Rotermund, von 2004 bis 2013 Professor für Medienwissenschaft an der Rheinischen Fachhochschule Köln, war selbst bei der für die „Tagesschau“ zuständigen ARD tätig. Von 1996 bis 1998 hatte er dort die Projektleitung für „ARD.de“ inne und verantwortete von 1997 bis 2000 das Projektmanagement des ARD-Onlineauftritts.
Quelle: welt.de